Ich sitze mal wieder im Zug. Es geht nach Hause zu meinen Eltern, mal wieder. Wir müssen morgen auf den Friedhof. Der Nachbar ist gestorben, ein netter Mann, mit 90 Jahren. Er hat, hatte an Silvester Geburtstag. Nachbarn waren wir seit etwa 20 Jahren, als er mit seiner Tochter und ihrem Lebensgefährten (mittlerweile Mann) in dem großen Garten neben uns gebaut hat, weil die Stadt sein Haus am Dorfrand für ein Gewerbegebiet gekauft hat und abreißen wollte, aber das Haus steht heute noch. Für uns war das ein Glücksfall, weil die Alternative gelautet hätte, der Neureiche bekommt das Grundstück und pflanzt ein 6-Parteien-Haus rein. Dann lieber Josef. Der war wenigstens nett.

Es gab nie einen Zaun zwischen unseren Grundstücken, bzw mit Baubeginn wurde der alte, der unser Grundstück von dem großen Garten getrennt hatte, auch entsorgt. Die Grenze sieht man trotzdem noch, an der Grasnarbe. Einer von Papas Apfelbäumen ragt in das Nachbargrundstück, einer ihrer Büsche auf unseres, wenn man mäht, mäht man halt n paar cm über die Grenze, passd scho. Josef hatte natürlich eher mehr Kontakt zu meiner Oma, Mama&Papa mit der Tochter und deren Mann, jede Generation mit der ihrigen eben. Ich hab gewunken und ein paar Worte mit ihm gewechselt, wenn ich nach Hause kam und mein Auto ausgepackt hab. Dann hat er meistens gesagt, „Ouhh, mei Frankfurter Mädle, biste aa widda ma im Land?“. Ich war immer das Frankfurter Mädle für ihn. So werd ich auch die Trauerkarte unterschreiben.

Es ist nicht so, dass Josef für mich eine Art Ersatz-Opa war. Mein zweiter Opa starb schließlich „erst“ 2016. Er war genau das, was ich auszudrücken versuche: der nette, ältere Nachbar. Dem man winkt, wenn man ihn auf der Straße vorbei fahren sieht. Mit dem man ein paar Worte wechselt, wenn man die Strasse kehrt. Dessen Gehsteig man halt auch noch grad von Schnee freiräumt, weil auf die 3m mehr kommts dann auch nicht mehr an. Er streut dann dafür das eigene Stück mit. Passd scho.

Zuletzt war er immer wieder im Krankenhaus. Bei uns heisst es nicht „schwer krank“, sondern derjenige „baut stark ab“. Josef baute seit knapp zwei Jahren stark ab. Kein Krebs wohl, aber Probleme mit dem Blut und generell halt schlechter werdend. Naja, in dem Alter darf man auch Probleme bekommen. Und was ich zuletzt gehört habe von Mama über seinen Gesundheitszustand, war es wohl besser, dass er losgelassen hat. Traurig ist es trotzdem. Es ist ein Unterschied, wenn man jemanden einfach nur nicht sieht oder weiß, dass derjenige nie wieder da sein wird. Nie wieder „Ouww, es Frankfurter Mädle! Biste aa mal widda dahemm? Was mächd der Fluchhafe?“ Oder „Fährschd widda nunner? Machs gut, Frankfurter Mädle, bass uff uff die Hesse!“

Warum schreibe ich das? Ja, natürlich wird er mir fehlen, jeder der stirbt fehlt. Aber es ist nicht nur das Verarbeiten der Trauer. Ich weiß nicht, ob es Trauer ist, was mich das hier schreiben lässt, schießlich habe ich eine merkwürdig distanzierte Einstellung. Und doch geht es mir ein Stück weit nahe. Ich bin ein Mensch, der schwer loslassen kann. An dem Tod meines ersten Opas knabbere ich noch heute. Vielleicht ist es diese Vorstellung. Diese Erinnerung. Ich stelle beim schreiben dieser Zeilen gerade fest, dass ich tatsächlich mit den Beerdigungen der Männer in meinem Leben mehr Probleme habe als bei denen der Frauen. Ok, die Männer führen die Statistik auch an. Alle vier Grosseltern, ein Cousin, ein Onkel und der Bruder einer Freundin, die Schwester von Opa 2. Das sind die Beerdigungen, die ich als „in der Familie“ bezeichnen würde.

Warum schreibe ich das? Ich weiß es nicht. Beerdigungen sind schiet, Trauer ist schiet, nicht trauern ist auch schiet in solchen Situationen. Ja, der Tod gehört zum Leben dazu. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, mit der Trauer zu leben. Andere können nur Vorschläge machen, was ihnen geholfen hat, was es ihnen leichter macht. Aber letztenendes muss jeder seinen eigenen Weg dadurch finden. Und man muss auch einen Weg finden, damit klar zu kommen, dass solche Begebenheiten ganz andere Dinge hoch spülen, mit denen man gar nicht gerechnet hat. Die eigentlich gar nichts damit zu tun haben. Deswegen beschäftigen wir uns so selten mit Trauer. Weil Gefühle dran hängen. Und diese Gefühle hängen mit anderen Gefühlen und Erinnerungen zusammen, die wiederum mit Gefühlen und Erinnerungen zusammenhängen usw usw. Und dann bist du ganz schnell eben bei Sachen, die du tief in dir begraben hast und mit denen du, weil du sie so tief vergraben hast, schon deinen Frieden gemacht hattest. Sie verlangen nicht nach Aufarbeitung, aber sie kommen in solchen Momenten nach oben und winken und erinnern dich daran, dass sie immer noch da sind. Dass sie immer noch ein Teil von dir sind. Trauer ist eines der heftigsten Gefühle, die sowas auslösen können, finde ich. Sie setzt die Spirale sehr viel schneller in Gang als die meisten anderen Gefühle. Sie kann schneller eine Depression auslösen als Frust oder Wut.

Ich glaube, ich habe gerade einen wichtigen Schritt gemacht. Jedenfalls fühle ich mich so, als ob ich das getan hätte. Wie nach einer guten Therapiesitzung. Ich habe eine Erkenntnis erlangt, wie eine Spirale in Gang gesetzt wird. Dass es durchaus wichtig ist, diese Spirale eine Weile laufen zu lassen. Gut. Gut Gut. Mit dieser Erkenntnis bin ich erstmal zufrieden. Jetzt muss ich mir überlegen, was ich mit dieser unerwarteten Erkenntnis anfange.

Vorher muss ich aber eine Trauerkarte unterschreiben. Das Frankfurter Mädle muss sich verabschieden.


Aruba

Geboren 1981, Fränggin, im hessischen Exil lebend weil am Flughafen Frankfurt beschäftigt, Katzenpersonal, Dreirad-Rollerfahrerin, BDSM-Interessierte, übergewichtig na und?, Schokoladenliebhaberin