Der Kerker. Eine Idee (nicht von mir, die Credits gebühren anderen), aus einer Laune heraus geboren, um Leuten in Zeiten von Ausgangsbeschränkung und anderen Lockdown-Massnahmen eine Möglichkeit zum Austausch zu geben. Plötzlich war ich Moderatorin in einem Projekt, das kurz zuvor noch nach einer guten, aber nicht einfach umzusetzenden Idee klang. Na gut, war ich halt Mod.

Was macht man denn als Mod? Ich hatte – mal wieder – keine Ahnung. Läuft irgendwie öfter so, dass ich mich auf Sachen einlasse, von denen ich keine Ahnung habe. Jedenfalls im Moment. Naja, darum soll`s jetzt nicht gehen. Back to topic. Die ersten Tage, Wochen von Corona, als langsam klar wurde, dass das nicht nur sowas wie Schweine- oder Vogelgrippe sein würde, dass das größere Ausmasse anzunehmen drohte (ich meine, hey, wann seit Ende des WW2 gab es Ausgangsbeschränkungen im westlichen Teil der BRD? Ich bin 1981 geboren und kann mich nur dunkel daran erinnern, dass es nach Tschernobyl mal hiess „besser nicht raus“). Da wurde auf Twitter die Idee des Kerkers geboren, eines Servers, auf dem Leute sich austauschen könnten, über Rezepte, mit welchen Sportübungen sie sich fit hielten zuhause, was sie lasen, was sie sonst so machten gegen den Lagerkoller, dass sie sich gegenseitig mit Tips für funktionierendes Home Office versorgten etc etc. Der Kerker sollte ein sfw – safe for work – Raum sein. Und ich sollte da mitmachen, als Aufsichtspersonal sozusagen. Ah ja.

Was der Kerker in diesen ersten Wochen wurde, war ein zweites, virtuelles Wohnzimmer. Irgendwer war immer online, irgendwer schrieb immer gerade irgendwas zu irgendeinem Thema. Abends etablierte sich schnell ein Unterhaltungsprogramm, mit Leseabenden, gemeinsam über Prime oder Netflix Film schauen, anderen beim Spielen im Coop-Modus zusehen, Black Stories, der Podcast der Frau O, das Pen&Paper. Irgendwas war immer los, es war immer interessant, ich wollte immer dabei sein und zuhören. Bei mir konnte ich eine Veränderung feststellen, mit der ich nie gerechnet hätte. Ich bin ein TV-Junkie, bei mir läuft fast 20h am Tag irgendein Tv-Programm, entweder auf dem großen Bildschirm im Wohnzimmer oder auf dem iPad, entweder Live-TV oder Prime und YouTube etc. Irgendwas läuft da bei mir immer. Der Kerker löste das ab. Plötzlich machte ich den TV aus, weil ich die Gespräche sonst nicht verstand. Und das geht jetzt seit Mitte März so. Wahrscheinlich wundern die sich bei Vodafone/unitymedia schon über mein verändertes Konsumverhalten. Aber es ist immer noch so: wenn ich zuhause bin, schau ich meine zwei Folgen CSI:Vegas bei RTL Crime, dann TV aus und Discord an.

Das heisst, nein, nicht mehr. Seit ein paar Wochen verändert sich jetzt auch der Kerker wieder. Es wird immer ruhiger dort, je mehr sich das „normale“ Leben wieder einpendelt. Die Anmeldezahlen sinken, nur wenn der Podcast angekündigt ist, klopfen viele an die Kerkerpforten. Der Film- und Kerkergamesabend sind genauso Geschichte wie das PnP, Sonntags ist nur noch vereinzelt Programm vor der Traumreise. Tagesschau schaut und streamt schon lange keiner mehr. Der Kerker erinnert mich ein bisschen an Detroit. Von dieser Stadt, einst das Herz der amerikanischen Automobilindustrie, heisst es heute nur noch, dass sie langsam stirbt, sich alles und jeder zurückzieht und nur noch die bleiben, die nicht wissen wohin sonst. Abgesehen von den Podcastabenden kommt mir der Kerker genauso vor. Bei den Leseabenden sind immer dieselben 5 oder 6 Leute da (nein, das ist nicht nur als Runninggag gemeint), das Team im Hintergrund organisiert sich um, weil einige wieder arbeiten oder zur Uni müssen, alles verschiebt sich wieder mehr Richtung Real Life. Alle haben wieder mehr Kontakt zu Familie und Freunden ausserhalb. Und die anderen, wie ich, bleiben mit einem komischen Gefühl zurück. Diesem Should-I-stay-or-should-I-go-Gefühl. Wie wenn du auf einer Party bist, eigentlich Spaß hast, die Musik ist gut, aber es ist gerade keiner in Sichtweite, den du kennst, und jetzt stehst du halt mit deiner Cola am Rande der Tanzfläche und weißt nicht, wohin mit dir. Kennt ihr das Gefühl?

Heute war wieder Leseabend. Es waren erst drei, dann … ich glaube, sechs Zuhörer. Gut, H.P. Lovecraft mag nicht jedermanns Sache sein, da skippt man dann gerne mal und kommt erst später rein. Mir sind eigentlich die Stimmen wichtiger. Ich mag es, etwas vorgelesen zu bekommen, egal was. Wenn das also erst, wie heute, ein merkwürdiges Gefasel von Lovecraft ist, gefolgt vom Gespenst vom Canterville, dass sich gegen eine amerikanische Familie wehrt, um dann mit Phileas Fogg auf einer seiner letzten Etappen durch die USA zu reisen….ungewöhnliche Kombo, aber Hauptsache gut gelesen. Die könnten auch alle doppelt so lange vorlesen (zumindest die drei vom heutigen Abend), ich würde mir das genauso anhören. Schmunzeln, lachen, nachdenken, und am Schluss würde ich nix wiedergeben können. Weil vorgelesen zu bekommen eine ganz eigene Art der Berieselung ist. Jemand ist da, man ist nicht alleine, aber man kann trotzdem alle möglichen anderen Dinge machen nebenbei und sich einfach nur der Berieselung hingeben (so ähnlich „schaue“ bzw höre ich Fernsehen: ich lasse mich akustisch berieseln, ohne dem bewegten Bild allzuviel Aufmerksamkeit zu widmen, ausser es ist irgendwas, was ich wirklich SEHEN will).

Und diese Party, dieses Leben im Kerker, das ….verwelkt gerade etwas. So zumindest mein Gefühl. Da macht mich traurig. Weil der Kerker mir gut getan hat. Vielleicht nicht unbedingt wegen Corona. Sondern den ganzen anderen Umbrüchen in meinem Leben und in mir. Ich bin durch den Kerker auf hurentwitter aufmerksam geworden, empfinde FemDom und Sexwork als zwei unglaublich spannende Konstrukte. Polyamorität. Meine Einstellung zu Polyamorität hat sich innerhalb weniger Wochen um 180° gedreht nahezu. Von „wie soll das denn gehen bitteschön, mehr als einen Menschen lieben?“ zu „interessantes Modell, lassen Sie uns da mal drüber nachdenken“.

Ein Kerker ist eigentlich ein Ort, an dem Türen hinter einem geschlossen werden.

Dieser Kerker hat eine Menge neuer Türen geöffnet.


Aruba

Geboren 1981, Fränggin, im hessischen Exil lebend weil am Flughafen Frankfurt beschäftigt, Katzenpersonal, Dreirad-Rollerfahrerin, BDSM-Interessierte, übergewichtig na und?, Schokoladenliebhaberin