Jeanne atmet ein. Die Nachtluft füllt ihre Lungen mit einer kühlen, klaren Brise. Um sie herum ist es ruhig, nur vereinzelt hört sie Stimmen der Nachbarn, Autos in der Ferne, vielleicht mal einen Zug oder ein Flugzeug. Im Gras zirpen Grillen, und irgendwo faucht eine Katze ihren Rivalen in Grund und Boden. Der Sommer ist Jeannes Lieblingsjahreszeit.
Einatmen, ausatmen.
Sie wurde nach Jeanne D`Arc benannt, soviel weiß sie. Sie fühlt sich aber ganz und gar nicht wie Jeanne D`Arc, sie hört keine Stimmen, die ihr göttliche Aufträge erteilen, und mit Religion hat sie schon gar nichts am Hut. Wenn sie es sich aussuchen könnte, würde sie sich lieber die Jeanne aus ihrem Lieblings-Manga als Vorbild nehmen. Die Kamikaze-Diebin. Die lautlos in ein Gebäude einbricht, einen verwunschenen Kunstgegenstand von seinem Fluch befreit und dann in die Nacht hinaus verschwindet, mal unerkannt, mal von der Polizei gejagt. In diesen Mangas und Animes sieht das Leben der Helden immer so einfach aus. Gerade das mit diesem Superheldendasein funktioniert immer problemlos. Jeanne dagegen ist froh, wenn sie sich mal den Kaffee ohne kleckern einschenkt.
Einatmen, ausatmen.
Was sie hier macht, weiß sie. Wie sie hier hergekommen ist, nicht so genau. Er war halt eines Tages da. Stand vor ihr und sah sie an. Er wußte, dass sie gute Grundlagen hierfür mitbrachte, es war ja schließlich in der Zeitung gestanden. Er hatte ihr einen job angeboten, einen nicht alltäglichen, aber mit gutem Auskommen. Selbst definierten Arbeitszeiten. Man müßte reisen, jedenfalls wenn man das wollte. Und, was für Jeanne das wichtigste Argument war: keine Kollegen. Vielleicht mal jemand, der einem zuarbeitete, oder was organisieren mußte. Aber kein Hey-hast-du-schon-gehört-8,5-Stunden-langes-Flurfunk-Gefasel. Kein „kommst du noch mit?“ oder „Lasst uns doch nach Feierabend mal da und dort treffen!“. Kein Geldsammeln weil irgendwer schwanger war oder in Ruhestand ging. Das hatte sie in all ihren früheren Jobs gehasst. Diese aufgezwungene Nähe zu Menschen, die ihr absolut nichts bedeuteten. Sie war kein Teamplayer, konnte nicht gut mit anderen umgehen, das wußte sie schon seit dem Kindergarten. Aber diese „gesellschaftlichen Konventionen“ und wie man es sonst noch nannte, die verlangten danach. Dass Jeanne sich verbog, sich verstellte, so tat, als würde sie das alles genauso gerne mitmachen wie die anderen. Dabei hasste sie es. Aus tiefstem Herzen hasste sie es.
Einatmen, ausatmen. Tasten.
Und jetzt war da dieser Job. Er hatte sein Wort gehalten: sie konnte arbeiten, wann sie wollte, mit wem sie wollte, wo sie wollte. Sie hatte einen Ruf. Sie galt aus Ausnahmetalent auf ihrem Gebiet. Natürlich, das wußte sie mittlerweile, fiel auch viel von diesem Ruf ihren beiden Ausbildern zu, Leon und Simonè. Er hatte ihr die Grundlagen des Jobs beigebracht, sie die Techniken verfeinert. Nicht jeder wäre für diesen Job geeignet gewesen, man muß schon aus einem bestimmten Holz geschnitzt sein. Oder der Welt so überdrüssig, dass es einem nichts ausmacht. Jeanne war anders, von Anfang an. Sie war nicht überdrüssig, sie sog das neue Wissen auf wie ein Schwamm das Wasser. Trotzdem machte es ihr diese neue Beschäftigung nichts aus, denn im entscheidenden Moment konnte sie ihre Gefühle ausschalten und funktionierte einfach. Und das so gut, dass selbst Leon sich ihr in ihrer Abschlußprüfung geschlagen gegeben hatte. Gut, es gab keinerlei Absicherung in Form von Renten- oder Sozialversicherung. Aber bei umgerechnet $10 000,- die Woche….who cares?
Einatmen, ausatmen. Langsam anziehen.
Den ersten Kunden vergisst man nie, heisst es. Sie konnte sich nicht mal an dessen Gesicht erinnern. Auch an das der Leute danach nicht. Die sechste Kundin, die würde ihr wohl immer im Gedächtnis bleiben. Die alte Frau mit den blauen Augen und der runzeligen Haut, deren Falten jede für sich eine Geschichte zu erzählen schienen. Sie hatte Jeanne selbst beauftragt, hatte eine genaue Vorstellung davon, was passieren sollte. Sie legte Jeanne in allen Einzelheiten dar, was sie von ihr erwartete und welches Ergebnis sie wünschte. Es würde der erste Job nach Simonès Methode werden, aber damit hatte Jeanne weder theoretisch noch moralisch ein Problem. Sie hatte sich gut vorbereitet und wusste, dass sie den Job zur Zufriedenheit ihrer Kundin erledigen würde. Die alte Dame sprach vorher noch mit ihr, erzählte ihr ihre Lebensgeschichte. Ein beeindruckendes Leben war es gewesen. Jeanne hatte fasziniert den Geschichten gelauscht, bis zum Schluss. Als sie ging, dachte sie bei sich, dass sie jetzt auch ein solch aufregendes Leben hatte. Dass sie auch eines Tages viel zu erzählen haben werde, von langweiligen Jobs und Rückschlägen zuerst, und wie sich alles gewendet hatte. Eines Tages wäre Jeanne die alte Dame. Aber bis dahin war noch viel Zeit.
Einatmen, ausatmen. Erfassen.
Jetzt war sie hier, in der lauen Sommernacht. Auf einer Anhöhe ausserhalb des Ortes. Ihre Vergangenheit hatte sie eingeholt. Er war wieder in ihrem Leben aufgetaucht. Er, der damals so viel kaputt gemacht hatte. Er, wegen dem sie so viel gelitten hatte. Wegen dem so viel schief gelaufen war. Er. Doch Jeanne hatte viel Zeit gehabt, sich auf diese Begegnung vorzubereiten. Sich zu überlegen, was sie dann tun würde, wie sie reagieren würde. Natürlich, das erste Treffen war nicht geplant. Es war nur kurz, sie war durch die Stadt gelaufen, hatte sich Schaufenster angesehen. Dann umgedreht, und wämm! Da lief er. Mit seiner Neuen am Arm. Schaute kurz zu ihr rüber. Ihre Blicke trafen sich. Sie erkannte ihn, und er sie. Doch er blieb nicht stehen, sagte auch nichts, nickte nicht mal. Nein, er….er verzog nur kurz den Mund, zu einem höhnischen Grinsen. Höhnisch? Oder doch eher lüstern? Oder….wie hatte sie es zu deuten? Was sollte dieses Grinsen sagen? Sie dachte lange darüber nach, viel länger, als dieser Augenblick gedauert hatte. Und abends, auf dem Balkon, bei einem Glas Wein, nachdem sie stundenlang das Bild in ihrem Kopf immer wieder hervorgerufen hatte, wusste sie es: überheblich. Er grinste auf diese überhebliche Art, wie er es immer getan hatte, wenn er sich seinem Gegenüber überlegen glaubte. Als wolle er sagen „Siehst du, mir gehst wunderbar, aber schau dich mal an, wie armselig du daher kommst!“. So war er immer schon gewesen, sie hatte es nur damals nicht wahrgenommen. Ob seine Neue….? Jeanne fegte den Gedanken schneller weg, als er in ihr aufkam. Wen interessierte das? Ihr Plan stand schon lange fest. Jetzt war es an der Zeit, ihre Fähigkeiten und Begabungen zu nutzen und den Plan umzusetzen.
Einatmen, ausatmen. Schussabgabe.
Ja, diese lauen Sommernächte waren Jeanne die liebsten. Man konnte in aller Ruhe draussen arbeiten. Weil die Leute lange draussen sassen. Jeanne packt ihr Gewehr und verschwindet im Wald.